Vor ein paar Tagen entschied ich mich, mit meiner einzig noch lebenden Oma das zu tun, was ich bei meiner im vorletzten Jahr verstorbenen „anderen“ Oma verpasst hatte: Mir für sie Zeit zu nehmen, mich mit ihr zusammen zu setzen und sie von ihrem Leben im „langen 20. Jahrhundert“ erzählen zu lassen.
Da ich mein Geld als Videograf verdiene, verfüge ich natürlich über das Know How ein solches Interview professionell aufzuzeichnen. Umso trauriger, dass ich das mit Oma Käthe, der Frau von Opa Franz, um dessen Postkarten es in diesem Blog geht, nicht hinbekommen habe.
Da meine Oma mütterlicherseits bald 95 Jahre alt wird, wurde es auch wirklich Zeit, dieses Vorhaben endlich umzusetzen. Denn mit Oma Anneliese wollte ich meinen Fehler, den ich bei Oma Käthe gemacht habe, nicht wiederholen.
Oma erzählt vom Krieg
Als Verbündete in dieser Sache schloss sich meine Mutter diesem Vorhaben an. Also fuhren wir beide in ihrem kleinen Panda, den wir mit meinen Kameras, Stativen und Film-Licht reichlich beladen hatten, zu Oma „Allis“ Wohnung und ich baute das Interview-Setup um ihren Wohnzimmertisch herum auf.
Oma „Alli“, geboren 1925 in Ostpreußen, hat zweifelsohne viel erlebt: Jugend im Nationalsozialismus, Krieg, Vertreibung, Geburt des ersten Kindes noch während des Kriegs, Heimkehr des Mannes aus französischer Kriegsgefangenschaft Neuanfang in der BRD und so weiter und so fort. Ein deutsches Leben des 20. Jahrhunderts. Ein spannendes zweifelsohne.
Überraschung im Gewehrschrank
Warum schreibe ich hier darüber? Hier auf opaskrieg.de, wo es doch um ganz andere Ahnen und einen ganz anderen Krieg geht? Ganz einfach: Oma zog nach unserem langen, für sie sicher Kräfte zehrenden Interview plötzlich noch ein Kaninchen aus dem Hut, mit dem niemand gerechnet hätte – meine Oma offenbar mit eingeschlossen:
Beim (gezielten) Wühlen nach Fotos und Dokumenten kam ein Tagebuch ihrer Mutter, meiner Uroma Erna Merkisch (1895-1937) zum Vorschein. Ein beim Blick in den Schrank erst unscheinbar wirkendes Buch, das beim Herausnehmen äußert „scheinbar“ wird, da auf seiner Front in goldenen Lettern das Wort „Tagebuch“ prangt.
Nachdem Oma mir regelrecht beiläufig erklärte, was sie da gerade in der Hand hält, fiel mir erst mal gepflegt die Kinnlade auf den Perserteppich.
Wie konnte meine Oma, die für mich einen Großteil der Feldpost meines Opas väterlicherseits für dieses Projekt aus der Kurrentschrift in Lesbares transkribiert hatte, die um meine Faszination für Ahnenforschung und den Ersten Weltkrieg wusste nur vergessen, dass sie ein verdammtes historisches Juwel in ihrem Schrank liegen hat?!
Ein Wahnsinnsfund und Gegenstück zu Opas Krieg
Ich teilte die Geschichte des Tagebuchfundes und Fotos des gleichen auf allen Kanälen von Opas Krieg: Instagram, twitter, facebook. Die Reaktionen waren überwältigend! Nicht nur ich erkannte das Potential des Tagebuches sofort. Und das, obwohl ich zu diesem Zeitpunkt nur ein wenig quer gelesen hatte und den kompletten Inhalt noch nicht kannte.
Unfassbar! Meine liebe Oma, deren Lebenserinnerungen ich gestern zusammen mit meiner Mutter auf Video aufgenommen habe,…
Gepostet von Opas Krieg am Donnerstag, 23. Januar 2020
Mittlerweile habe ich die Aufzeichnungen meiner Uroma in Gänze durchgelesen und meine Ahnung, dass es sich hierbei um Material handelt, dass nach einer Veröffentlichung schreit, hat sich nicht nur verfestigt sondern zu einem Beschluss zementiert.
Bei dem Material handelt es sich um die Aufzeichnungen einer 19-jährigen Frau, die den Krieg nicht nur aus der Zeitung oder Wirtshauserzählungen kennt, sondern als Ostpreußin ganz nah an der Grenze zu Russland und somit zum Kriegsschauplatz lebte. So nah, dass sie nicht nur den Aufmarsch eigener Truppen vor ihrem Haus in Muschaken (heute Muszaki) erlebt, sondern diese Truppen sogar im Haus hat, weil diese dort einquartiert werden. So nah, dass sie nicht nur den Kanonendonner hören, sondern auch den Feind in Form russischer Kriegsgefangener sehen kann. So nah, dass sie letztlich sogar für einige Monate mit ihrer Familie vor den Russen fliehen muss.
Hinzu kommt, dass sie zwei Brüder hat, die im Felde stehen und die von der Front berichten, zwischendurch für tot gehalten und nach erlittenen Verletzungen kurzzeitig in Lazarette ganz nah der Heimat kommen.
Warum nur hast Du aufgehört, Uroma?
Das Tagebuch beginnt unmittelbar nach Beginn der Julikrise und endet – leider – bereits im März 1915. Oma „Alli“ hat im Jahr 1981 das Tagebuch per Schreibmaschine abgetippt und es ergeben sich so ungefähr 12 Seiten in Maschinenschrift. Im Originaltagebuch hat Uroma leider nur die Hälfte der Seiten beschrieben. Warum nur, fragt sich der Historiker in mir?
Aber ich will nicht undankbar sein: Schließlich kam dieser eben etwas „unvollständige“ Schatz ja auch nur durch puren Zufall ans Licht und es lohnt sich, seine Energie lieber in die Edition der vorhanden Seiten zu stecken, als sie für den Ärger über die leer gebliebenen zu verwenden.
Die Schlacht bei Tannenberg
Schauen wir also auf das was da ist und Hintergrund der Erzählungen des Tagebuchs von Uroma ist – denn das ist faszinierend genug: Da wäre zum einen die Fehlkalkulation der Obersten Heeresleitung, die nach dem Eintreten aller Bündnisfälle im Anschluss an das Attentat von Sarajevo, dem Schlieffen-Plan folgend davon ausging, dass Russland relativ lange brauchen würde, um mobil zu machen und man zunächst genug Zeit habe, sich um die Westfront zu kümmern.
Die Russen waren aber schneller kriegsfertig als gedacht und die eine in Ostpreußen verbliebene Armee hatte den Zarentruppen relativ bald nach Kriegsausbruch nicht viel entgegenzusetzen.
Die Folge waren Gebietsverluste in Ostpreußen. Zu den verlorenen Gebieten zählte unter anderem die Heimat meiner Uroma rund um Muschaken (Masuren). Diese verkorkste Militärstrategie war der Grund, warum Uroma fliehen musste. Erst das Gespann Hindenburg/Ludendorff brachten die Situation und die verlorenen Gebiete in Ostpreußen für das Kaiserreich in der „Schlacht bei Tannenberg“ wieder unter Kontrolle.
Von all dem berichtet – direkt oder indirekt – meine Uroma Erna.
Was hätte sein können
Natürlich fragt man sich, worüber sie noch hätte erzählen können, wenn sie das Tagebuch weiter geschrieben hätte: Den Mangel/Hunger, der in der Zivilbevölkerung nach der Seeblockade Englands herrschte, über den späteren „Heldentod“ ihres Bruder Bruno im Jahr 1916, von dessen Verlobung im Lazarett wir immerhin noch hören, von weiteren Schlachten und Ereignissen an der Ostfront, dem Ende des Krieges und so fort.
Was tun mit dem Material?
Dass ich das Material online stellen würde, war mir sofort klar – noch bevor ich es überhaupt in Gänze gelesen hatte (ähnlich ging es mir ja mit Opas Postkarten, deren Veröffentlichung ich bereits begann, bevor ich alle Karten kannte).
Die Frage war (und ist) nur: Wie?
Ich habe mich dazu entschieden, hierfür kein neues Projekt, kein neues Blog, keine neuen Accounts zu starten, sondern das Material im Rahmen von Opas Krieg zu veröffentlichen, obwohl es sich hier ja um einen anderen Familienzweig handelt.
Eine „auf den Tage genau 100 Jahre danach“-Strategie wie bei Opa Franz‘ Postkarten funktioniert hier nicht – der Zug ist längst abgefahren. Das gesamte Tagebuch am Stück in einen einzelnen Beitrag zu stellen, kommt mir irgendwie auch unangemessen vor.
Daher habe ich mich für eine andere Lösung, ähnlich des „Zeitstrahls“ für Opa Franz‘ militärische Laufbahn entschieden. Aber dazu zu gegebener Zeit mehr.
Jetzt heißt es erst mal: Scannen, Informationen und Fotos sammeln und zusammenstellen und vor allem Tippen!
Denn neben dem Kriegsschauplatz im Osten (über den ich im Vergleich zur Westfront erschreckend wenig weiß) muss ich mich vor allem auch mit der Familiensituation und auch den geografischen Gegebenheiten Ostpreußens vertraut machen.
Die Arbeit an diesem überaus spannendem Material wird mich noch ein paar Wochen kosten. Aber eine Veröffentlichung ohne wissenschaftlichen Hintergrund entspräche weder meinem eigenen Anspruch noch würde es dem Material gerecht werden.
4 comments On Uromas Krieg
wir haben auch Material seit ca. 1850 -Ihr könnt Euch ja melden http://www.D-ROLF.com
0172 3400611
Cooles Projekt! 🙂
Folgendes Buch ist eine Kriegskladde oder wie auch immer das Ding heißt von der 13. Kompanie des IR 369. Offiziell „Übersichts-Buch für dem Kompagnie-Führer“. Sie stammt aus dem Nachlass meines Großonkels Hermann Heuer (1889-1927), dessen eigentlicher Beruf Physiker und Mathematiker war. Im 1. WK war er Kompaniechef, stationiert in Bouillonville. Das ist ca. 30 km SW der Stadt Metz, ungefähr 40 km SO von Verdun.
Danach kommt noch mehr. Ich würde auch das ganze Buch (handgeschrieben in Sütterlin) abfotografieren. Was ich suche ist eine Webseite, die auch von Leuten, die das zu würdigen wissen, gelesen wird.
Das mit der Kladde klingt sehr interessant!
Bouillonville sagt mir was – mein Großvater war selber dort, übersetzte den Namen scherzhaft mit „Fleischbrühstadt“. Ich selbst war zwei mal dort. Ein winziges, schönes Dorf mit einem deutschen Soldatenfriedhof. Hier ging früher eine Eisenbahnlinie vorbei, die Eisenbahnbrücke wurde im WW1 von den Franzosen gesprengt und nie wieder aufgebaut.
Noch mal zurück zur Kladde: Selbst veröffentlichen heißt die Devise! 😉