Opa Franz, der Bursche

Über das Verhältnis meines Großvaters Franz Mack zu seinen Vorgesetzten wusste ich bis jetzt nicht Genaueres. Ich konnte und kann nur sicher sagen, dass Opa Franz während seiner gesamten Militärlaufbahn (01.10.1914 – 31.07.1918) einfacher Fußsoldat (Infanterist) geblieben war und trotz dreifacher Auszeichnung (Eisernes Kreuz, Militärverdienstkreuz und Verwundetenabzeichen) nie durch Beförderung im Rang aufgestiegen ist.

Bisher habe ich angenommen, dass dieser Umstand auf Opa Franz‘ eher kritische Haltung gegenüber Obrigkeiten und Autoritäten zurückzuführen sei. So war er zum Beispiel nie besonders religiös. Außerdem war er als einfacher Arbeiter (Lederzuschneider) und späteres SPD-Mitglied ideologisch eindeutig eher links zu verordnen und hat sich – wie sein Nachlass beweist – gelegentlich und anscheinend auch oft mit Genuss mit Obrikeiten angelegt (mit seinem Arbeitgeber hat er z.B. zwischen den Weltkriegen erfolgreich vor Gericht um ein gutes Arbeitszeugnis gestritten).

Briefe ergeben ein neues Bild

In Opa Franz‘ Feldpostkarten gibt er kaum Einblicke in den ihn umgebenden Militärapparat. Hier geht es meist eher um kurze Lebenszeichen, Dank und Grüße. Möglicher Weise gaben Franz‘ Briefe, die er zweifelsohne mit der Heimat ausgetauscht haben muss, tiefere Einblicke in seine Seele und das Soldatenleben. Leider sind diese Briefe aber nicht erhalten.

Trotzdem habe ich nun in Opa Franz‘ Nachlass drei Feldpostbriefe entdeckt, die er Ende 1917/Anfang 1918 am Krankenbett empfangen hat, als er längst schwer verletzt von der Front zurück in Bayern (erst München, dann Nürnberg) angekommen war. Sie geben erstmals Einblicke in Franz‘ dienstliches und auch persönliches Verhältnis zu seinen Vorgesetzten.

Franz, der „Bursche“

Ich möchte die Briefe in vollem Umfang erst dann veröffentlichen, wenn sie ihren 100. Jahrestag feiern. Dies macht schließlich OpasKrieg.de aus. Trotzdem lohnt sich aus genannten Gründen schon jetzt ein Blick auf die Schriftstücke:

Bei den Briefen handelt es sich um zwei Schreiben von Albert Schorer und eines von Georg Kaul. Bei beiden handelt es sich um Offiziere im Rang eines Leutnants. Und in Kauls Brief vom 28.12.1917 an Opa Franz erfahren wir beiläufig etwas über dessen Stellung:

Es ist bloß schade, daß ich Dich nicht bei mir habe. Es gibt jetzt gar keinen echten tüchtigen Burschen mehr u. muß erst langsam herangebildet werden.

Zunächst war mir die Bezeichnung „Bursche“ nicht klar. Beim Blättern in „Der gute Kamerad. Ein Lern- und Lesebuch für den Dienstgebrauch des deutschen Infanteristen“, herausgegeben von Major von Klaß (20. Auflage, Berlin 1915) erkannte ich aber, dass es sich bei einem „Burschen“ um eine Art „Diener“ oder „Knappen“ eines Offiziers handelt. In Kapitel 9 des Lehrbuches („Verhalten bei besonderen Gelegenheiten“) findet sich als Unterpunkt für Kapitel 4 („Kommandos“) der Abschnitt „Bursche“.

Dort heißt es über die Funktion des Burschen:

Bursche zu sein ist eine besondere Vertrauensstellung. Nur wen der Hauptmann für besonders treu, zuverlässig, ordentlich, selbstständig und ehrlich hält, wird er zum Burschen bestimmen.

Der gute Kamerad
„Der gute Kamerad“ von 1915.

Franz muss also zumindest gegen Ende seines Kriegseinsatzes (bis Mitte 1917) Bursche bei einem oder gar bei zwei Offizieren gewesen sein.

Was bedeutet das also nun? Die oben stehenden Tugenden werden im Lehrbuch im weiteren Textverlauf genauestens erklärt (das ganze Kapitel „Bursche “ gibt es am Ende dieses Textes). Hier erfahren wir etwas über die Pflichten, aber auch über die Privilegien des Burschen.

Auch oder gerade weil das im Lehrbuch beschriebene Verhältnis Herr/Diener aus heutiger Sicht sehr feudal wirkt und ein wenig an veraltete „Ratgeber für die gute Hausfrau“ aus voremanzipatorischer Zeit erinnert, ist es sehr aufschlussreich im Hinblick auf das Pflichtgefühl oder die Obrigeitshörigkeit des wilhelminischen Deutschlands:

Du trittst als Bursche zu deinem Vorgesetzten in ein viel näheres Verhältnis, als wenn du dich in der Kompagnie befindest. (…) Dieses Vertrauen legt dir auch die Pflicht auf, in allen Dingen, die deinen Herren betreffen, zurückhaltend zu sein.

Die Stellung als Bursche hatte aber offenbar auch Vorteile:

Du stehst als Bursche nicht unter so strenger Aufsicht, du genießt mehr Freiheit, eben weil man dich für zuverlässig hält.

Als Bursche des Leutnants scheint Opa Franz‘ offensichtlich auch nah an militärischen Entscheidungen „drangewesen“ zu sein:

Du weißt auch als selbstständiger und guter Bursche über die Befehle der Kompagnie oder der Garnision, über den Anzug bei besonderen Gelegenheiten, wie Paraden, Kirchgang, oder wenn sich höhere Vorgesetzte im Ort befinden, bescheid, ohne daß es dir zugetragen wird, weil du dich rechtzeitig erkundigt hast.

Das Handbuch beschreibt das Verhältnis Offizier/Bursche zu Friedenszeiten, gibt aber auch einen Ausblick auf den Krieg:

Handelst Du aber im Frieden treu und brav, dann wirst du einst im Kriege sicher auch der stattlichen Zahl prächtiger, treuer, deutscher Burschen zugerechnet werden, die ihren Herren in Tod und Gefahr folgten, für sie sorgten, ja ihr Leben für sie ließen.

Treu, zuverlässig, ordentlich, selbstständig und ehrlich

Da es sich laut Verlustlisten sowohl bei Albert Schorer  als auch bei Georg Kaul um Leutnants der Reserve handelte, ist anzunehmen, dass Franz Mack beiden als Bursche gedient hat. Die im Lehrbuch beschriebene Nähe des Burschen zum Offizier wird besonders im Brief Kauls deutlich, da er Franz herzlich „duzt“. Auch aus Schorers Briefen spricht eine gewisse Vertrautheit zwischen den beiden, auch wenn er im Gegensatz zu Kaul beim „Sie“ bleibt, was allerdings auch darauf zurückzuführen sein könnte, dass Schorer zwölf Jahre älter war als Franz Mack (Kaul war nur zwei Jahre älter als Franz).

Besonders das im lezten Zitat beschworene Treueverhältnis zwischen Offizier und Bursche scheint sich für Franz Mack militärisch ausgezahlt zu haben. Leutnant Kaul schreibt im bereits zitierten Brief an Franz:

Kann Dir zu Deiner und meiner Freude mitteilen, daß mein Vorschlag zum Verdienstkreuz (…) genehmigt wurde.

Leutnant Georg Kaul
„Zur Erinnerung an Leutnant Georg Kaul 1916/1917“

 

Übrigens wird in Rebers Regimentsgeschichte für Franz Macks 21. Infanterie-Regiment erstmals ab dem 10. Januar 1918 ein „Lt. Kaul“ als Führer der 4. Kompagnie aufgeführt. Und erst jetzt – beim Verfassen dieses Textes – habe ich zwischen all den Postkarten von Opa Franz eine Fotografie entdeckt, der ich vorher keine Beachtung geschenkt habe. Sie zeigt: Leutnant Kaul, einen jungen Mann mit Zwicker. Ein interessantes Gefühl, wenn der Gegenstand meiner Recherche plötzlich ein Gesicht bekommt!

In den Erinnerungen des preußischen Offiziers Hans Tröbst finden sich einige Bemerkungen zum Thema „Bursche“, wie zum Beispiel hier in „Der Marsch in die Weite“ – Band 4: Adjutant im Hindenburg-Regiment – Als Pionier vor Dünaburg (Ein Soldatenleben in 10 Bänden 1910 – 1923):

„Bursche“ ist eigentlich ein falscher Ausdruck, der, glaube ich, noch aus der Zeit des Alten Fritz stammt. Damals hieß es nicht wie heute die „Leute“, sondern die „Bursche“ – wie man in allen alten Instruktionsbüchern lesen kann. „Die Bursche sollen darauf achten, dass beim Schießen und Zielen die Gewehre möglichst waagrecht auf den Feind gerichtet sind“ – so ungefähr steht es in einer alten Schießvorschrift. Der richtige Bursche im Kriege war eigentlich kein Diener, auch nicht im Frieden, sondern mehr das, was bei einem Generaldirektor vielleicht der Sekretär ist. Auch das nicht, er war ein Mittelding zwischen Freund und Vertrauter. „Dienender Bruder“ trifft auch nicht den Kern der Sache. Der Bursche war ein Stück vom Leutnant und der Leutnant ein Stück vom Burschen. Keiner war ohne den anderen denkbar, für beide war ungeschriebenes, oberstes Gesetz, gegenseitig nach besten Kräften und Gewissen füreinander zu sorgen. Und darin suchten sich beide wetteifernd zu übertreffen. Darüber ließe sich auch ein Sonderkapitel schreiben.

In Band eins der Erinnerungen von Tröbst heißt es außerdem:

Jeder Bursche muss ein Jahr an der Front dienen und dient das zweite Jahr als Bursche. Ein Posten, der sehr gesucht ist. Diese Männer sind im Allgemeinen dienstfrei und werden nur dreimal in der Woche, entweder am Vormittag oder nachmittags „herangezogen“, damit sie nicht zu fett werden und nicht alles Gelernte wieder vergessen.

Fazit

Sollte Opa Franz also in den Augen seiner Offiziere dem Idealtypus des Burschen entsprochen, so müssen sie ihn für treu, zuverlässig, ordentlich und ehrlich gehalten haben. Zwar ist „Bursche“ kein gesonderter Dienstgrad – trotzdem wäre Opa Franz nun doch entgegen allem, was ich vorher wusste, innerhalb seiner Einheit aufgestiegen. Außerdem hatte er als „Bursche“ – zumindest eine Zeit lang – einen Stellung innen, die von Kameraden spöttisch „Druckposten“ genannt wurde, weil manche „Burschen“ im Ruf standen, sich nicht mehr in Gefahr zu begeben. Dass Franz der Gefahr nicht fern bleiben konnte, beweisen aber nicht zuletzt seine zwei Kriegsverletzungen. Seine letzte, die für ihn den Krieg beendende, zog er sich bei einem Sturmangriff zu. An seinem Vorgesetzten Leutnant Kaul hatte Opa Franz wohl offenbar nicht nur einen Fürsprecher, der ihn für ein Verdienstkreuz vorschlug, sondern auch eine Art Freund gewonnen. Ein am 28.03.1918 von Opa Franz an seinen Vorgesetzten Leutnant Kaul verschickten Brief mit Ostergrüßen war bereits nicht mehr zustellbar und kam zum Absender zurück. Leutnant Kaul lag zu diesem Zetpunkt vermutlich bereits auf dem Sterbebett. Am 14.04.1918 verstarb er an den Folgen einer schweren Kriegsverwundung und wurde im Grab 331 (Block 6) auf dem deutschen Soldatenfriedhof Vladslo in Belgien bestattet.

 

Das komplette Kapitel über den Burschen aus „Major von Klaß (Hrsg.): Der gute Kamerad. Ein Lern- und Lesebuch für den Dienstunterricht des deutschen Infanteristen. Ausgabe für Bayern, 20. Auflage, Berlin 1915, S. 90 ff.“:

Bursche.

Bursche zu sein ist eine besondere Vertrauensstellung. Nur wen der Hauptmann für besonders treu, zuverlässig, ordentlich, selbstständig und ehrlich hält, wird er zum Burschen bestimmen.

Treu muß der Bursche sein.

     Du trittst als Bursche zu deinem Vorgesetzten in ein viel näheres Verhältnis, als wenn du dich in der Kompagnie befindest. Du bist täglich und stündlich um ihn, du siehst und hörst mehr von ihm, als irgend ein anderer Mann. Je mehr dir dein Herr vertraut, desto offener wird er gegenüber dir sein.

Dieses Vertrauen legt dir auch die Pflicht auf, in allen Dingen, die deinen Herren betreffen, zurückhaltend zu sein. Wenn du aber z.B. die Angelegenheiten deines Herrn zum fortwährenden Gesprächsstoff machst, dann verdienst du das Vertrauen nicht, dann bist du nicht wahrhaft treu.

Als Burschen sind dir die Sachen deines Herrn, vielleicht auch seine Pferde, anvertraut, und je mehr er dir die Sorge für sie überläßt, desto größer ist sein Vertrauen in dich.

Wenn du nun für das Hab und Gut nicht so sorgst, als wenn es dein Eigentum wäre, wenn es dir z.B. ganz gleichgültig ist, ob die Sachen deines Herrn von den Motten zerfressen werden, ob die Waschfrau mehr Stücke auf die Rechnung setzt, als sie abgeliefert hat, ob die Kohlen nutzlos vergeudet werden, dann wohnt in Deinem Herzen nicht die richtige Treue.

Wenn du dich mit deinem Herren nicht zu freuen, nicht traurig zu sein vermagst, wenn nicht für ihn sorgst und ihm in der Not beistehst, bist du noch weit entfernt, ein treuer Bursche zu sein.

Zuverlässig muß der Bursche sein.

     Du stehst als Bursche nicht unter so strenger Aufsicht, du genießt mehr Freiheit, eben weil man dich für zuverlässig hält. Mißbrauche also diese Freiheit nicht, sonst mußt du in die Kompagnie zurück und zwar, was das Schlimmste ist, mit dem Brandmahl behaftet, ein unzuverlässiger, schlechter Soldat zu sein.

     Legst du dich, z.B. wenn dein Herr den Rücken kehrt, auf sein Sopha, benutzt du seine Sachen, trägst du am Ende gar seine Wäsche, dann bist du unzuverlässig.

Ordentlich muß der Bursche sein.

     Sei sauber und ordentlich an deiner eigenen Person. Einen unsauberen und liederlichen Menschen mag niemand um sich haben.

     Halte die Sachen deines Herrn sauber und in Ordnung. Es ist eine Ehrensache für dich als Burschen, daß dein Herr stets „wie aus dem Ei geschält“ dahergeht. Kommt dein Herr schlecht abgebürstet zum Dienst, reißen ihm Knöpfe ab, trennen sich die Nähte auf, dann sagt jeder: Was hat der Herr für einen liederlichen Burschen“, und du wirst dafür angesehen.

     Der ordentliche Bursche sieht am Abend die Sachen, die sein Herr am nächsten Tage braucht, gründlich nach und bessert sie aus. Er meldet beizeiten, wenn etwas zum Schneider muss.

Selbstständig muß der Bursche sein.

     Zeige, dass du ein Mann bist, der für andere sorgen kann. Ein wirklich guter Bursche weiß alles und sorgt für alles aus eigenem Antrieb. Dein Herr kommt spät abends aus einer Gesellschaft. Du weißt als guter Bursche, wann und wo dein Herr am nächsten Morgen Dienst hat, welcher Anzug befohlen ist, wann er geweckt werden muß.

     Dein Herr ist Offizier vom Ortsdienst. Du weißt es als guter Bursche und hältst den vorgeschriebenen Anzug bereit.

     Du weißt auch als selbstständiger und guter Bursche über die Befehle der Kompagnie oder der Garnision, über den Anzug bei besonderen Gelegenheiten, wie Paraden, Kirchgang, oder wenn sich höhere Vorgesetzte im Ort befinden, bescheid, ohne daß es dir zugetragen wird, weil du dich rechtzeitig erkundigt hast.

Ehrlich muß der Bursche sein.

     Viel ist dir als Bursche anvertraut, mancherlei geht durch deine Hände, größer wie in der Kompagnie ist deshalb auch die Versuchung. Widerstehe ihr als Mann und als Christ. Bedenke, wie viel ehrloser du durch Unredlichkeit wirst, wo man dir so viel vertraute. Bedenke auch hier: Mit Kleinigkeiten, vielleicht mit ein paar Zigarren, fängt es an, mit einigen Pfennigen, die im Auslagebuch zuviel angeschrieben, geht es weiter und mit der Veruntreuung der Sachen deines Herrn und dem Stehlen baren Geldes hört es auf. Halte Deine Finger und Dein Gewissen rein!

Handelst Du aber im Frieden treu und brav, dann wirst du einst im Kriege sicher auch der stattlichen Zahl prächtiger, treuer, deutscher Burschen zugerechnet werden, die ihren Herren in Tod und Gefahr folgten, für sie sorgten, ja ihr Leben für sie ließen.

Nach dem Sturm auf die Düppeler Anhöhen am 13. April 1849 erhielt der Unterleutnant Konrad Murmann der 3. Kompagnie des vormaligen 2. bayer. Jäger-Bataillons (jetzt 16. Inf.-Rgt.) eine schwere Verwundung am Fuße. Sein Bursche Johann Regler brachte ihn in ein nahe gelegenes Haus. Da ärztliche Hilfe nicht zur Stelle war, legte er ihm den ersten Verband an und holte dann unter dem heftigen Feuer des Feindes von dem 30 Schritt entfernten Meeresstrand Wasser zum Übergießen der stark blutenden Wunde.

Ehre solchen Burschen und werde du gegebenenfalls wie er!

Enkel von Franz Mack. Studierter Historiker, ausgebildeter Journalist, Blogger und Autor. Dreht Filme als dervideograf.de.

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